Vielfalt? Allfalt?

Warum Vielfalt nicht der passende Begriff in der Integrationsdebatte ist, erklärt Sezen Tatlici vom Verein Typisch Deutsch in ihrem Artikel »Ich lehne VIELfalt ab!« und setzt den Begriff »Allfalt« dagegen. Den ich wiederum nicht passend finde.

Mein Kommentar dazu.

Wir müssen in der Lage sein, ALLE Falten des Fächers aufzuklappen und zu sehen. Was wir also wirklich brauchen, ist Allfalt. Wir müssen alle Falten des Fächers auffächern und annehmen.

Wie viele Menschen leben in Deutschland?
Aus wie vielen verschiedenen »Herkunftsländern« kommen diese Menschen?
Wie viele Subkulturen gibt es?
Wie viele Dialekte werden gesprochen?

Jeder Mensch ist ein Individuum. Jedes Land ist damit streng genommen äußerst vielfältig. Aber können wir jedem Menschen in vollem Maße gerecht werden? Wenn das Vielfalt oder gar Allfalt sein soll, dann wird uns Allfalt überfordern.

Und hier kommen für mich Kulturstandards ins Spiel: Kulturstandards (PDF, 299 KB) sorgen dafür, dass unsere Art der Wahrnehmung, des Denkens, Wertens und Handelns für uns selbst und für alle anderen in gleichem Maße normal, typisch, selbstverständlich und verbindlich sind. Weil wir deswegen nicht großartig darüber nachdenken müssen, welche Sprache wir sprechen müssen, wie wir uns Unbekannte begrüßen, welche Regeln zu befolgen sind, erleichtern Kulturstandards unser Zusammenleben. Sie helfen, uns im menschlichen Miteinander zu orientieren.
Beispielsweise die Anordnung von Vorname und Nachname: Zuerst der Vorname, dann der Nachname. Alles, was dazwischen ist, sind ebenfalls Vornamen. In der Regel ist der erste Vorname der Rufname.
In Korea ist das anders. Der erste Name ist der Nachname, der Rest der Vorname (und Koreaner haben nur einen Vornamen, auch wenn die beiden Silben häufig getrennt geschrieben werden). Das verwirrt aber Europäern so oft, dass Fußballer, Künstler oder Politiker in deutschen Medien häufig falsch benannt werden. Eine einheitliche Handhabung, wie wir mit Namen umgehen, erleichtert also den Alltag. Mindestens einen deutschen Vornamen für alle übrigens auch. Ich zumindest spüre schon die Erleichterung in meinen »türkischen« Umfeld, wenn ich mich mit meinen deutschen Vornamen vorstelle.

Wie viele »ethnische Minderheiten« gibt es in Deutschland? 5? 10? 100? Deren kulturelle Pracht anzuerkennen ist für mich nicht das Problem. Aber zu wissen, wie ich mich bei wem zu verhalten habe, schon. Da brauchen wir einen Standard, einen gemeinsamen Verhaltenskodex. Eine übergeordnete Übereinkunft, die von allen »Falten« getragen wird, so dass wir in Zukunft nicht befürchten müssen, im eigenen Land ins Fettnäpfchen zu treten. Das ist für mich keine Einfalt, sondern eine Einheit (es wäre allerdings naiv anzunehmen, dass diese Einheit 1:1 identisch ist mit der deutschen »Leitkultur«).

Daher denke ich, dass es nicht erforderlich ist, alle Falten aufzufächern und zu sehen. Ich denke, es ist wichtiger, den Fächer als solchen zu sehen und (an)zuerkennen, dass alle Falten, die mit dem Fächer verbunden sind, auch zum Fächer gehören.

Bei einem Fächer werden einzelne Falten durch Fäden oder durch Stoff miteinander verbunden. Diese Verbindungen sind auch für jeden Betrachter sichtbar.
Im realen Leben »sehen« wir aber diese Verbindungen nicht. Stattdessen halten wir die »Hautfarbe« bzw. die »Rassenzugehörigkeit« als das verbindende Element, das unser »Deutschsein« definiert. Und das sieht nicht nur die „Mehrheitsgesellschaft“ so, sondern auch alle anderen »Minderheiten«. Ich z.B. werde generell als »Asiate« erkannt, egal, ob von »Deutschen« oder von »Türken« oder von »Kamerunern« oder von »Koreanern«, was bedeutet »kein Europäer«, was ergo heißt »kein Deutscher«.

Warum? Weil der Maßstab, jemanden als Deutschen zu identifizieren, der weiße Mitteleuropäer ist. So haben wir das gelernt, so ist das bislang normal. Auch meine Eltern hinterfragen das nicht. Sie sind aber auch nicht hier aufgewachsen wie die 2. oder 3. Generation und kennen auch ein anderes Leben. Die meisten der 2. Generation kennen maximal unsere »Parallelwelt« (und jede Minderheit hat ihre Parallelwelt!), selten aber die Welt unserer Eltern.

Aber nicht nur meine Eltern, auch die Mehrheit der »Türken«, »Russen«, »Kameruner«, etc. hinterfragen das Bild vom Deutschen noch zu wenig. Wäre es anders, die Menschen würden mich nicht alle fragen, woher ich »käme«.

Im Moment stellen sich also die meisten Menschen in Deutschland »normale Deutsche« als weiße Mitteleuropäer vor.

Was wir brauchen ist demnach eine andere, neue Normalität.

Kamuran Sezer hat dies in seinem Artikel »Türke mit deutschem Pass? Was denn sonst!« bereits angedeutet:
Der Türke

verschmilzt mit der deutschen Gesellschaft: Das Deutsche wird das Türkische prägen wie das Türkische das Deutsche verändern wird.

Auf der privaten Ebene kann jeder ein Türke, ein Koreaner, ein Kameruner, ein Bayer, ein Franke, ein Sachse, ein Rheinländer, ein… sein und bleiben. Aber auf der öffentlichen Ebene brauchen wir ein Zusammenwachsen, möglicherweise ein Verschmelzen zu einer Einheit. Wir brauchen etwas, womit wir uns alle identifizieren können, eine gemeinsame Identität, gemeinsame Traditionen, gemeinsame Regeln. Etwas, was uns allen normal erscheint, typisch für uns alle ist, selbstverständlich und verbindlich.
Einen neuen Kulturstandard, der das »Deutschsein« (oder wie immer wir es nennen wollen) neu definiert und von allen akzeptiert wird.

Allfalt, so wie ich den Artikel verstanden habe, legt keinen Wert auf ein Verschmelzen. Allfalt betont dagegen jede einzelne Falte. Mich aber interessiert eher der Fächer an sich und das, was die Falten verbindet.

Zur Vision:

Natürlich haben deutsche Politiker eine Vision!
Nur ist es oft die falsche für Leute wie mich!
Oder mit anderen Worten: Das Segelschiff Deutschland wird in die falsche Richtung gesteuert.

Ich für meinen Teil habe eine Vision des allfältigen Deutschlands, wo jede Falte des Fächers seinen berechtigten Platz hat und anerkannt ist – ob mir jede der einzelnen Falten lieb ist oder nicht, bequem oder unbequem, ob ich einverstanden bin mit der jeweiligen Lebensweise oder nicht.

Ja. Gerne.

Ich sehe eine Vision, in der Zugehörigkeit an der Tagesordnung ist und das tägliche Mit-einander gelebt wird…

Ist mir zu vage. Zu was gehören wir? Was verbindet uns? Und wie erkennen wir die Verbindung? Was ist denn »typisch deutsch«?
Und was meint die Autorin mit Mit-Einander? Wie sieht dieses Mit-Einander aus?

…und eine Vision des gemeinsamen Arbeitens an einer Herausforderung!

Erst muss erkannt werden, dass »Integration« eine »Herausforderung« sowohl für die »Migranten« als auch für die »Mehrheitsgesellschaft« ist.
Denn solange der »Mehrheitsdeutsche = weißer Mitteleuropäer« die Norm darstellt, wird Integration auch immer das Problem der Minderheitendeutschen/»Migranten« bleiben, niemals zum Problem der Mehrheitsgesellschaft werden (da diese ja »normal« ist und »Minderheiten« ja deswegen »Minderheiten« sind, weil sie sich von der Mehrheit unterscheiden und deswegen niemals der »Norm« entsprechen).

Daher ist es jetzt an uns, diese Vision gemeinsam zu erarbeiten!

Ich denke, dass wir uns als erstes nicht mehr als Minderheit verstehen dürfen, sondern unseren Anspruch als Deutsche sichtbar machen müssen. Das führt dazu, dass wir den Maßstab, die Norm, das, was normal ist, ändern müssen. Wir müssen neue Standards setzen, bei denen vor allem die Hautfarbe kein Unterscheidungskriterium mehr sein darf.

Zu akzeptieren, dass wir »Migranten« auch Deutsche sind, kann aber auch bei »Migranten« selbst auf Ablehnung stoßen, wenn sie Angst haben, ihre bisherige Kultur, ihr bisheriges »Leben« zu verlieren.

Wir brauchen also eine Vision, die sowohl die »Mehrheitsgesellschaft« als auch »Migranten« positiv anspricht und Ängste nimmt. Wir müssen eine Win-Win-Situation für alle schaffen.
Und wir müssen konkreter werden, anstatt von Falten und Fächern zu reden.
Denn das ist mehr die Sprache der Politiker… 😉

Veröffentlicht von Daniel Sanghoon

Hi, ich bin Daniel Sanghoon Lee. Hier schreibe ich auf, was mich als Koreaner der zweiten Generation beschäftigt. Die Kommentarfunktion ist bis auf weiteres abgeschaltet (Stichwort DSGVO).

Kommentare sind geschlossen.