Die Migrantisierung des Ostens

Ich lese heute den Artikel »Ost-Identität: Unsere Herkunft ist kein Makel« auf ZEIT Online (Artikel vom 07.08.2019, abgerufen am 30.08.2019). Allein die Überschrift löst in mir sofort ein Gefühl des Verstehens für offenbar geteilte Erfahrungen aus.

Beim Lesen beschleicht mich das Gefühl, dass wir es geschafft haben, den Osten Deutschlands (natürlich mit Ausnahme von Berlin) zu migrantisieren (alle folgenden Zitate stammen aus oben genanntem Artikel, wenn nicht anders vermerkt):

»Aber in den vergangenen Jahren hat sich etwas verändert. Der Osten ist eine selbstverständliche Kategorie geworden, ein ganz normales Thema zwischen zwei Menschen auf einem Musikfestival. […] Der Osten bin auch ich. Der Osten sind auch wir.«

Der Migrant ist auch eine selbstverständliche Kategorie geworden. Auch ich wurde vom Ausländer zum Deutschen zum Migranten.

»[…] aufgewachsen bin ich in Magdeburg und in einem Bewusstsein, dass diese Republik aus 16 Bundesländern besteht, nicht aus zwei Hälften. Aber je älter ich wurde, desto ostdeutscher fühlte ich mich. Anfangs wollte ich das nicht wahrhaben.«

Ja, je mehr ich mich selbst als Deutschen sehe, desto migrantischer fühle ich mich dabei, weil außer mir selbst und nur wenigen anderen sehen mich alle anderen weiterhin nur als Migranten, aber nicht als Deutschen.

Wieso?

Die Antwort: Ich SEHE ja, dass du kein Deutscher bist. Wo kommst du noch mal URSPRÜNGLICH her?

»Was sie alle, was uns alle (offenbar) eint: Wir verbinden unsere Herkunft nicht mit einem Makel, sondern mit Selbstbewusstsein.«

Was vielen Angst macht. Denn damit wird eine mangelnde, fehlende Identifizierung mit einer Bundesrepublik Deutschland und ihren Werten assoziiert.

»Sie alle beschreiben, auf unterschiedliche Weise, eine ähnliche Erfahrung: Lange wollte man sein Ostdeutsch-Sein ablegen, die Herkunft verstecken oder verschleiern. Für viele dieser Generation bedeutete Einheit das Ziel, wie die Westdeutschen zu werden. Sie wollten dazugehören und hatten doch das Gefühl, dass sie es nie konnten. Sie haben gehofft, nicht als Ostdeutsche aufzufallen; und wenn das doch passiert ist, haben sie sich geschämt.«

Das ist etwas, das ich in letzter Zeit auch von vielen der jungen, zweiten asiatisch-deutschen Generation höre (also Menschen in ihren 20er Jahren). Ich erinnere mich nicht daran, mich jemals dafür geschämt zu haben, (auch) Koreaner zu sein. Wenn ich mich geschämt habe, dann eher dafür, dass ich kaum Koreanisch kann und damit kein „guter“ Koreaner bin.

»Im Osten fühlt sich jeder Fünfte eher als Ostdeutscher oder Ostdeutsche denn als Deutscher oder Deutsche. In Westdeutschland gibt es das analoge Phänomen fast nicht. Woher kommt dieses starke Gefühl, Ostdeutscher zu sein?
[…]
Die eigene Identität wird einem oft bewusst durch etwas, das außerhalb von einem selbst passiert. […] Aber das Ostdeutsch-Sein wird auch an uns herangetragen.«

Ja.

Solange andere uns als „Migranten“ bezeichnen und behandeln, solange werden wir eine andere Identität und Identifizierung entwickeln als wenn wir einfach als Deutsche betrachtet würden.

Stichwort: Parallelgesellschaften.

Obwohl die Mehrheit der Deutschen sogenannte Parallelgesellschaften fürchtet, tut sie doch alles, damit diese erst entstehen und vor allem gedeihen.

Das Migrantisch-Sein und damit die Parallelgesellschaft wird AUCH an uns herangetragen Die volle Wahrheit ist natürlich, dass es auch Kräfte gibt, die uns dahin ziehen. Die im Kleinen existierenden Parallelgesellchaften hätten aber keine Chance, würde uns die deutsche Gesellschaft stärker zu sich hin ziehen, uns also als Deutsche akzeptieren und integrieren würde, statt uns als Migranten zur Parallelgesellschaft hin zu schieben.
Ich frage mich auch, ob ich der Einzige bin, der gewisse Parallelen bei diesen vermeintlichen Beobachtungen sieht:

Ostdeutsche werden stigmatisiert – die Zahl der (vermeintlichen) Rechtsradikalen nimmt zu.

Muslime werden stigmatisiert – die Zahl der (vermeintlichen) Islamisten nimmt zu.

»Die Selbstwahrnehmung ist eine Reaktion auf die Fremdwahrnehmung.«

Wie wahr.

»Westdeutsche nehmen sich nicht als solche wahr, weil „westdeutsch“ kein ernsthaft verwendetes Attribut ist. „Es gibt immer eine Norm, die das ‚Normale‘ darstellt“, sagt Kubiak. „Und das Normale ist in diesem Kontext das Westdeutsche.“ Und die Abweichung vom Normalen, die ist es, die benannt wird. Das ist der Osten.«

Weiße Deutsche nehmen sich nicht als solche wahr, weil „Weißsein“ kein ernsthaft verwendetes Attribut ist. „Es gibt immer eine Norm, die das ‚Normale‘ darstellt“, sagt Kubiak. Und das Normale ist in diesem Kontext das Weißsein. Und die Abweichung vom Normalen, die ist es, die benannt wird. Das ist der Migrant.

»Die Ostdeutschen werden oft als eine homogene Gruppe angesprochen. Das kann man an der Berichterstattung nach Wahlen erkennen, wenn gefragt wird, was denn mit denen da los sei.«

Die Migranten, und noch häufiger, die Muslime werden oft als homogene Gruppe angesprochen. Das kann man an der Berichterstattung erkennen, wenn es wieder einen Vorfall gab.

»All das führt dazu, dass wir Jüngeren uns fragen: Was heißt das, ostdeutsch zu sein?«

All das führt dazu, dass sich die Jüngeren fragen: Was heißt das, Migrant zu sein?

»Dafür, dass die ostdeutsche Kultur es kaum in das wiedervereinigte Deutschland geschafft hat, hatte ich überhaupt kein kritisches Bewusstsein.
Als ich das irgendwann realisierte, fühlte ich mich an den Moment erinnert, in dem ich feststellte, dass die meisten Bücher, die wir in der Schule gelesen hatten, von Männern geschrieben waren.
Es geht nicht darum, dass die Sachen, die man bereits kennt, schlecht sind. Nur darum, dass es da noch mehr zu kennen gibt. Und dass es in Vergessenheit geraten wird, wenn wir es nicht bewusst hervorholen. Und sich Menschen vergessen fühlen, wenn man ihre Kultur ignoriert.«

Repräsentation.

In migrantischen Fall geht es weniger darum, sämtliche Kulturen der Welt in die deutsche Kultur zu integrieren. Hier geht es eher darum, sichtbar zu machen, wie vielfältig Deutschland geworden ist und dass Menschen, die nicht Weiß und „normal“ sind, trotzdem ein normaler und selbstverständlicher Teil Deutschlands sind. Damit das eigene Sein schlicht nicht als „unnormal“ angesehen wird und Menschen anfangen, sich für ihr „Anderssein“ zu schämen.

»Der Soziologe Aladin El-Mafaalani hat in seinem Buch Das Integrationsparadox einen interessanten Gedanken formuliert. Demnach bedeuten Konflikte in der Gesellschaft nicht, dass Integration scheitert, sondern im Gegenteil – dass sie gelingt. […]
Er bezieht seine These vor allem auf Menschen mit Migrationshintergrund. Aber ein bisschen kann man sie – ohne etwas gleichsetzen zu wollen – auch auf Ostdeutsche übertragen.«

Keine Gleichsetzung – aber viele Parallelen.

Und eine Ursache.

Na ja, okay, es gibt wohl nicht wirklich DIE eine Ursache. Wäre ja sonst auch zu einfach.

Viele verschiedene Aspekte, die in uns allen liegen, die in meinen Augen viel mit der Dominanz der westdeutschen Kultur zu tun hat und der Unfähigkeit des „Westens“, sein Sein mal ehrlich zu reflektieren.

Wie oft hören wir z.B., dass die Frage nach der Herkunft nicht böse gemeint sei. So gut wie nie hören wir die Bereitschaft, die Einstellung hinter dieser Frage mal ehrlich zu reflektieren.

Warum nicht?

Vor diesem Hintergrund verstehe ich auch die Kritik von Ai Weiwei, dass Deutschland keine offenen Gesellschaft sei:

»Es ist eine Gesellschaft, die offen sein möchte, aber vor allem sich selbst beschützt. Die deutsche Kultur ist so stark, sodass sie nicht wirklich andere Ideen und Argumente akzeptiert. Es gibt kaum Raum für offene Debatten, kaum Respekt für abweichende Stimmen.«

Quelle: Ai Weiwei will Berlin verlassen, SPIEGEL Online, 09.08.2019, abgerufen am 30.08.2019

Die Reaktionen in deutschen Medien geben oft Unverständnis für Ai Weiweis Aussage wider. Schließlich sei Deutschland doch so offen und hätte ja seine Grenzen für die ganze Welt geöffnet. Ja, die Grenzen sind (relativ) offen, die Köpfe der Deutschen aber nicht. Ja, die Menschenrechtssituation ist in Deutschland größtenteils besser als in anderen Ländern. Einige kommen dann auch, um Schutz zu suchen. Aber a) stimmen Anspruch und Wirklichkeit in Bezug auf Menschenrechte auch in Deutschland immer noch nicht überein und b) kommt niemand wegen den tollen deutschen Sozialleistungen.

»Ost- und Westdeutschland haben sich nie auf Augenhöhe befunden. Diskursmacht, Führungskräfte, Wirtschaftsmacht: alles westdeutsch.«

Bzw. alles Weiß und männlich und… (da ist sie doch, diese EINE Ursache… 😉 )

»Nur bekommt das jetzt auch wirklich jeder mit, weil wir jetzt darüber sprechen. Es ist kein Schritt rückwärts, wenn man Probleme benennt, im Gegenteil.«

Die Tatsache, dass wir nun darüber sprechen, bedeutet leider nicht, dass wir damit einen Schritt vorankommen. Meine Erfahrung ist, dass wir bei denen, auf die es eigentlich ankommt, ständig gegen eine Mauer der Ignoranz anlaufen. Wir haben bislang noch nicht den Meißel gefunden, mit dem wir eine Lücke in diese Mauer schlagen können, der diese Mauer dann auch letztendlich zu Fall bringt.

Auch, weil Migranten und People of Colour und Weiße Deutsche sich nicht auf Augenhöhe befinden. Mein Eindruck ist beinahe schon, dass (im Moment) Weiße Deutsche dies auch niemals zulassen würden.

Es würde Weiße Deutsche abwerten, stünden sie nun auf einer Stufe mit diesen „defizitären“ Migranten.

Um das zu ändern, müssten wir erst einmal Migranten und People of Colour als gleichwertige Menschen bzw. Deutsche betrachten und behandeln. (Viele scheinen ja schon allein damit Schwierigkeiten zu haben, dass Männer und Frauen WIRKLICH gleichberechtigt sind, von anderen Geschlechtern ganz zu schweigen! Was können wir People of Colour da erwarten?)

Ich persönlich finde diesen Artikel sehr gut geschrieben und die Beschreibungen für mich (natürlich) sehr gut nachvollziehbar (wie mensch hier lesen kann). Wir brauchen wirklich mehr solcher Stimmen. Und wir brauchen Menschen, die bereit sind, wirklich zuzuhören und zu reflektieren, was das alles mit ihnen zu tun hat.

Und vielleicht schaffen es nun die Menschen, die wir im Westen gerne noch als Ostdeutsche bezeichnen, eine Lücke oder gar Bresche in die für uns undurchdringliche Mauer zu schlagen, damit diese deutsche Gesellschaft endlich auch eine wirklich offene und gerechte Gesellschaft wird.

Die Hoffnung stirbt zuletzt.

Veröffentlicht von Daniel Sanghoon

Hi, ich bin Daniel Sanghoon Lee. Hier schreibe ich auf, was mich als Koreaner der zweiten Generation beschäftigt. Die Kommentarfunktion ist bis auf weiteres abgeschaltet (Stichwort DSGVO).

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