Auf Du und Du

Eine Freundin von mir bemerkte letztes Jahr auf der Maigedenkfeier: Es sei doch irgendwie komisch, dass wir, die 2. Generation uns in Gegenwart der 1. Generation immer noch als Jugendliche bezeichnen und die 1. Generation als Erwachsene. Vor allem, da wir ja selbst schon Ende 30, Anfang 40 und bereits mit eigenen Kinder gesegnet sind. Ich musste ihr schmunzelnd zustimmen, denn auch ich bin in Gegenwart der 1. Generation immer noch eingeschüchtert.

Dieses Jahr nahmen an der Maigedenkfeier neben mir nur noch zwei andere der 2. Generation teil. Da mir diese Tatsache schon vorher bewusst war, lautete der Titel meines Vortrages entsprechend „Das politische Erbe der 1. Generation an die 2. Generation“. Mir ging es hauptsächlich darum, dass die politische Arbeit nicht einfach mit unseren Eltern sterben darf.

Auf solchen Veranstaltungen spüre ich immer wieder, dass die 1. Generation uns 2. Generation vermisst. Daher drehten sich im Laufe des Wochenendes viele Diskussionen um die Frage, wie wir die 2. Generation wieder für die politische Arbeit ihrer Eltern und die Maigedenkfeier gewinnen können. Dabei sind wir natürlich auf die üblichen Hindernisse gestoßen: Wir, die 2. Generation, leben in Deutschland, unser Lebensmittelpunkt ist hier. Wir erleben Korea anders und sind auch nicht wirklich persönlich von der Teilung des Landes betroffen. Das Sprachproblem könnte man zwar mit guter Vorbereitung in den Griff bekommen, wie sich an diesem Wochenende gezeigt hat, aber die Themen selbst gehen meist an der Lebensrealität der 2. Generation vorbei. Von den vielen unterschwelligen Eltern-Kind-Konflikten mal abgesehen.

Ein Aspekt aber ist mir erst zum Ende nach der Abschlussdiskussion bewusst geworden. Wir reden von Demokratie, wir reden von einem gemeinsamen Seminar, wir reden von gemeinsamen Tätigkeiten. Aber: Wie reden wir miteinander und vor allem: Wie reden wir uns an?

Ich kenne viele der 1. Generation, seit ich ein Kleinkind bin. Entsprechend werde ich von diesen Vertretern der 1. Generation geduzt. Sowohl auf deutsch als auch auf koreanisch. Aber auch andere der 1. Generation, die ich bis dato nicht kannte, duzen mich meist. Denn sie wissen, ich gehöre zur 2. Generation, bin also ein Kind von jemanden der 1. Generation. Bislang habe ich mich daran insofern nicht gestört, als dass dieses Duzen die natürliche Hierarchie unter Koreanern widerspiegelt. Gerade wenn ich selbst eine ältere Person auf koreanisch anspreche, ist es normal, dass ich die entsprechende Höflichkeitsstufe wähle. Und natürlich auch bei meinen Eltern.

Aber auf Deutsch? Darf ich eigentlich die Vertreter der 1. Generation einfach so duzen, so wie sie mich duzen?

Beim Mittagessen am Sonntag meinte eine Frau erstaunt: Natürlich darfst du das, ich duze dich ja schließlich auch! Ich erwiderte: Nein, so selbstverständlich ist das nicht!

So einfach ist das in meinen Augen tatsächlich nicht. Denn 1. denkt nicht jeder der 1. Generation so wie diese Frau (und da bin ich mir ziemlich sicher!) und 2. bin ich hinsichtlich der Anrede der 1. Generation so koreanisch erzogen worden, dass es sich einfach falsch anfühlt, wenn ich jemanden, der mein Vater oder meine Mutter sein könnte, duzen soll.

Wenn du dich beim Duzen unwohl fühlst, dann bleib doch einfach beim Sie! Oder?

So einfach ist das auch nicht, denn das einseitige Duzen und Siezen erzeugt eine Hierarchie. Dass es eine strenge gesellschaftliche Hierarchie in Korea gibt, spiegeln allein die fünf Höflichkeitsstufen in der koreanischen Anrede wider. Je niedriger die Stufe, auf der ich mich befinde, desto höflicher bin ich gegenüber dem Höhergestellten. So eine Hierarchie mag dann in der Familie noch okay sein, aber auf einer Veranstaltung, die ein fachliches Thema zum Inhalt hat und zu dem die Teilnehmer alle etwas beitragen sollen, ist so eine Hierarchie unpassend, geradezu kontraproduktiv. Eine eigene Meinung gegenüber Höhergestellten frei zu äußern ist nicht einfach, wenn wir in der Familie gelernt haben, dass am Ende die Eltern das letzte Wort haben (»Meinungs- und Deutungshoheit«). Und wenn wir auf einer allgemeinen Veranstaltung dieselbe familiäre Hierarchie haben und spüren, werden Vertreter der 2. Generation von Anfang an benachteiligt und eingeschüchtert.

Diese Hierarchie allein ist für mich, der ich in Deutschland geboren und aufgewachsen bin, schon ein Widerspruch zu westlichen demokratischen Traditionen. Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit hieß es schon zur französischen Revolution. Aber als 2. Generation verspüre ich in Gegenwart der 1. Generation nicht die gleiche Freiheit, die die 1. Generation scheinbar hat, noch dass ich mit ihr gleichgestellt bin oder wir uns gar verbrüdern.

Eine solche gesellschaftliche und sprachliche Hierarchie führt in meinen Augen dazu, dass wir auf Veranstaltungen wie der Maigedenkfeier nicht auf Augenhöhe miteinander reden können. Eine solche gesellschaftliche und sprachliche Hierarchie passt auch nicht mehr zur Lebenswelt der 2. Generation. Entsprechend, befürchte ich, schreckt allein die Vorstellung und Erwartung einer solchen Hierarchie auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit 1. und 2. Generation die 2. Generation vom Kommen ab.

Was bedeutet das für die Zukunft?

Wenn die strenge Hierarchie zwischen 1. und 2. Generation ein Grund ist, an der Maigedenkfeier (und an anderen Veranstaltungen) nicht teilzunehmen, dann müssen wir darüber nachdenken, diese Hierarchie zumindest in der deutschen Sprache abzuschaffen oder zu ersetzen.

Abschaffen könnte bedeuten, dass wir uns in Zukunft alle Duzen. Oder Siezen.

Innerhalb der 2. Generation ist es eigentlich üblich, dass wir uns gegenseitig duzen, egal, wie groß der Altersunterschied ist. Die meisten nutzen auch nicht mehr die Bezeichnungen für ältere Bruder/ältere Schwester. Und wenn doch, dann freiwillig und nicht, um mich selbst wieder klein zu machen und eine Hierarchie aufzubauen, sondern einfach, um jemanden eine Freude zu bereiten.

Innerhalb der 1. Generation wiederum scheinen sich gerade die Frauen ebenfalls mit dem Problem der Altershierarchie beschäftigt zu haben. Denn egal, wer älter oder jünger ist, reden sich viele Frauen im Koreanischen untereinander mit „Onni“, also ältere Schwester an. Insofern findet eine Gleichbehandlung statt und gleichzeitig ehrt man die Angesprochene. Aber, selten finden sich unter diesen Frauen so große Altersunterschiede wie zwischen der 1. und 2. Generation, so dass die paar Jahre, um die es dann geht, aus meiner Sicht auch eher zu verschmerzen sind.

So stelle ich mir aber eine Form vor, wie man eine vorhandene Hierarchie durch eine bestimmte, einvernehmliche Form umgehen bzw. ersetzen kann.

Bei den Männern der 1. Generation dagegen habe ich das Gefühl, dass hier noch am ehesten auf die gesellschaftliche Hierarchie geachtet wird. Zumindest kann ich mich nicht daran erinnern, dass die Herren der Schöpfung sich analog zu den Frauen alle mit „älterer Bruder“ ansprechen. Hier dominieren nach meiner Beobachtung die üblichen Anredeformen, vom höflichen Herr Lee (Lee Seonsaengnim) über das vertrautere „Hyeong“ (älterer Bruder) oder dem angehängten ~ssi.

Die unterschiedlichen Anredeformen auch innerhalb der 1. Generation deuten darauf hin, dass eine sprachliche Angleichung im Deutschen zwischen 1. und 2. Generation kompliziert werden und zu unterschiedlichen Resonanzen führen kann.

Tatsächlich haben mir Laufe der Zeit immer wieder Frauen der 1. Generation das Du angeboten. Dabei handelt es sich aber meist um Frauen, die mich entweder erst als Erwachsenen kennengelernt haben, oder um Frauen, die mit einem deutschen Mann verheiratet sind. Der erste Typ Frau sieht in mir nicht mehr das Kind, sondern eher den (jungen) Erwachsenen, und hat daher auch weniger Probleme, mir das Du anzubieten. Der zweite Typ hatte selbst unter dem koreanischen Patriarchat gelitten und sich dann mit dem deutschen Partner emanzipiert. Mit den neuen Freiheiten kann auch das Selbstbewusstsein und das Bewusstsein dieser Frauen für die Ungerechtigkeit dieser Hierarchie derart zunehmen, dass sie keine Probleme haben, sich auf einer Stufe mit Jüngeren zu stellen.

Koreanische Männer der 1. Generation wiederum bieten das Du generell nicht an. Sie scheinen ihren Status als älterer Mann zu genießen, der innerhalb der Hierarchie auch eine gewisse Macht darstellt. Ältere Männer vermitteln ihren Status gerne auch sprachlich, wenn es darum geht, Sachen zu tragen, Geräte aufzustellen, Laufarbeit zu leisten. Anweisungen erfolgen gerne im Kommandoton.

Klar, für die Männer der 1. Generation ist das schlicht der natürliche Lauf der koreanischen Dinge. So haben sie es selbst gelernt, so haben sie es ihren Kindern gelehrt. Und weil die meisten der 1. Generation gesehen haben, wie wir 2. Generation aufgewachsen sind, bleiben wir in ihren Augen halt weiter Kinder. Aber genau diese Haltung führt dazu, dass wir, die 2. Generation, uns in Gegenwart der 1. Generation selbst noch als Jugendliche bezeichnen und empfinden und die 1. Generation als Erwachsene. Und das passt nicht zu unserem Eigenbild als (junge) Erwachsene. Wenn wir dann auch noch sehen, mit welchem Respekt die 1. Generation die Studenten aus Korea behandelt, obwohl diese mittlerweile sogar jünger sind als wir 2. Generation, trägt das nur dazu bei, den Graben zwischen 1. und 2. Generation weiter zu vergrößern.

Fazit

Kann es also sein, dass nicht (nur) die Themen, nicht die Sprachprobleme, sondern und vor allem die immer noch vorhandene sprachliche Hierarchie der Grund ist, der die 2. Generation von solchen Veranstaltungen fernhält?

Nur um das klarzustellen: Selbstverständlich existiert eine natürliche Hierarchie zwischen Eltern und Kindern. Daran soll man auch nicht rütteln. Wir sollten uns aber langsam fragen, ob eine Veranstaltung wie die Maigedenkfeier eine Veranstaltung für Eltern und deren Kinder ist oder ob hier Menschen zusammenkommen, die gemeinsam und gleichberechtigt an einem Thema arbeiten. Im letzteren Fall müssen wir dringend einen Weg finden, dass 1. und 2. Generation auch sprachlich gemeinsam und gleichberechtigt zusammenarbeiten können, wenn wir den Abstand zwischen beiden Seiten verringern wollen.

Und wir sollten über die Antworten diskutieren, bevor die nächste Veranstaltung stattfindet. Wir sollten bei der nächsten Veranstaltung von Anfang an festlegen, wie wir miteinander reden wollen, wie wir uns gegenseitig anreden wollen (Mit Vornamen? Mit Titel? Mit Du? Mit Sie?) und wie wir den jeweils anderen sehen.

Und wenn wir beschließen, gleichberechtigte Gesprächspartner zu sein, dann sollte die 1. Generation uns auch so behandeln. Und wir 2. Generation müssen dann lernen, unsere Hemmungen abzulegen und dieses Recht auch einzufordern.

Ich denke, das wird für beide Seiten ein sehr interessanter Lernprozess.

Veröffentlicht von Daniel Sanghoon

Hi, ich bin Daniel Sanghoon Lee. Hier schreibe ich auf, was mich als Koreaner der zweiten Generation beschäftigt. Die Kommentarfunktion ist bis auf weiteres abgeschaltet (Stichwort DSGVO).

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